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Ein Aramäer kehrt zurück. Reportage von Martin Iten

Ein Aramäer kehrt zurück

 

Severiyos und die Bergleute von Arth und Tur Abdin.

 

Reportage von Martin Iten, Melchior Magazin

13. Januar 2017
Schier gespenstisch ruhig ist es, die Luft ist staubig und es riecht stark angestaut. Da wo eben noch tausende Menschen in den Straßen und Gassen flanierten, Geschäfte und Restaurants zum Verweilen einluden, ist jetzt keine Menschenseele mehr anzutreffen. Keine einzige. Die Straßen sind trümmerbeladen, Häuser fallen in sich zusammen. Alles ist zerbombt, zerstört und verbrannt. Eine einst so stolze Stadt liegt gebrochen am Boden, wortwörtlich in Schutt und Asche geschlagen. Mit ihr sind es auch die Herzen der vormals rund zwei Millionen Einwohner. Fast alle mussten fliehen, viele sind umgekommen, haben schlimmste Verbrechen erlebt. Wenn Traurigkeit geografisch geortet werden könnte, sie wäre hier zu finden: in Nordsyrien, in Aleppo. Severiyos Aydin bleibt andächtig stehen, muss tief Luft holen. Vieles hat er in den vergangenen Jahren gesehen. Doch diese rabiate Gewalt, diesen blanken Hass – die Trümmer wirken, als würden sie laut das Wort TOD zum Himmel schreien. Aleppo, dessen Altstadt seit 1986 zum UNSESCO-Weltkulturerbe gezählt wurde, ist in diesen Tagen die größte Schutthalde der Welt. Und genau heute vor vier Jahren hat sich Severiyos geschworen, dass er in diese Trostlosigkeit echte Hoffnung bringen will.

Rami, ein lokaler Helfer, begleitet Severiyos durch die zerstörten Gassen. Er spricht gut englisch. Lange schon stehen die beiden in Kontakt. Rami war während der umkämpften Besatzung der letzen vier Jahre die meiste Zeit in der Stadt geblieben. Irgendwie hat er es geschafft, hat überlebt. Geholfen in dieser schweren Zeit hat auch das Wissen, dass da einer wie Severiyos an ihn und seine Freunde denkt; dass sie nicht ganz vergessen sind. Nicht erst seit Weihnachten, als die syrische Regierung die Kontrolle über Aleppo zurückgewinnen konnte, ist er der festen Überzeugung: „Wir werden diese Stadt wieder aufbauen.“ Rami und Severiyos sind beide aramäische Christen. Mit dem gemeinsamen Tatendrang und dem gemeinsamen Glauben teilen sie auch die gemeinsame Geschichte ihres gebeutelten Volkes, das seit 1400 Jahren immer wieder neu aufbaut. Aufbauen muss.
25. Januar 2017
Eiskalter Wind bläst durch die geschäftigen Straßen einer Schweizer Kleinstadt. Ich treffe Severiyos Aydin in einem kleinen Café beim Bundesplatz. Vor wenigen Tagen ist er aus dem Kriegsgebiet zurückgekommen, steht noch immer unter den Eindrücken der Geschichten und Bilder seiner letzten Reise. Eben traf er sich mit dem Präsidenten einer großen politischen Partei, um diesem von der humanitären Situation in Syrien und im Irak zu berichten. Er hat dabei besonders auch auf die desolate Situation der ethnischen Minderheiten hingewiesen, jene der Jesiden, Armenier, Chaldäer, Assyrer und Aramäer und so weiter. Das Gespräch war ein weiteres kleines Etappenziel vom großen Auftrag seines gemeinnützigen Hilfswerkes „Aramaic Relief International“, welches er am 13. Januar 2013 gegründet hatte. „Ich konnte nicht mehr zuschauen.“ Severiyos hat sich einen heißen Tee bestellt und fängt an zu erzählen. Ganz von vorne. In den 70er Jahren reisten Severiyos’ Eltern in die Schweiz ein. Ursprünglich stammen sie, wie viele Aramäer, die sich selbst übrigens „Suryoye“ nennen, aus der Gebirgsregion Tur Abdin in der heutigen Südosttürkei, nahe der Grenzen zum Irak und Syrien. Aufgrund von massiver Verfolgung und schwieriger wirtschaftlicher Lage waren seine Eltern gezwungen ihre Heimat zu verlassen, und gingen zuerst nach Istanbul. Der Vater arbeitete in der Stadt am Bosporus als Goldschmied, ehe ihn sein Schwager im schweizerischen Kanton Schwyz in einer Fabrik anheuerte. Schnell war klar, dass auch die Eltern von Severiyos in Richtung Westen ziehen müssen, wenn ihr Leben eine Zukunft haben sollte. In der Türkei gab es für sie keine Perspektive und als christliche Minderheit waren sie vielen Repressalien ausgeliefert. Der Vater fand ebenfalls Arbeit in einer Schweizer Fabrik, wie hunderte andere Aramäer auch. Zur Familie Aydin gehörten schnell fünf Kinder; 1985 kam Severiyos zusammen mit seiner Zwillingsschwester Nehrin in Schwyz zur Welt. Die Kinder wuchsen mit der aramäischen Muttersprache auf Am Sonntag besuchten alle zusammen jeweils die syrisch-orthodoxen Gottesdienste in aramäischer Sprache, zu denen sich immer mehr weitere in der Schweiz lebende Aramäer versammelten. Severiyos lernte viele Geschichten und Lieder über die Heimat und sein Volk kennen. Im Kindergarten lernte er Deutsch – schnell war er voll integriert und ein guter Schüler. Dann irgendwann begegnete ich ihm. Ich kann mich noch schwach erinnern, es war Anfang des neuen Jahrtausends, als wir dasselbe Oberstufen-Schulhaus besuchten. Severiyos war eine Klasse über mir, wir kannten uns nicht persönlich. Trotzdem erkannte ich sofort sein Gesicht, als ich ihn viele Jahre später, im Oktober 2014, in einem Beitrag des Schweizer Fernsehens sah. Darin wurde berichtet, wie Severiyos Hilfsgüter sammelte, um diese direkt an die Kriegsfront zu Hilfsbedürftigen in den Irak und nach Syrien zu transportieren. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht. Ein Gleichaltriger aus meiner Stadt, den ich vom Sehen her kenne, packt eine derart verrückte Aktion an! Ich schrieb ihm eine Mail und so lernten wir uns kennen. Als 2011 in Syrien die kriegerische Auseinandersetzung im Rahmen des sogenannten „Arabischen Frühlings“ begann, verfolgte Severiyos die Entwicklung genau. Einige Jahre vorher, als 18-Jähriger, bereiste er die Gegend zum ersten Mal. Er besuchte die Heimat seiner Eltern, die Gebirgsregion Tur Abdin. Nachdem er schon als Kind viel von der einzigartigen Landschaft und Kultur gehört hatte, war diese Reise ein bewegendes Erlebnis. „Es war wunderschön und hat alle meine Vorstellungen übertroffen“, schwärmt er. Severiyos knüpfte Freundschaften und hielt all die Jahre den Kontakt aufrecht. So hatte er dann auch sofort direkte Informationen aus dem Krisengebiet, als die Situation immer prekärer wurde und sich ausweitete. Die Nachrichten, die er erhielt, ließen ihn immer ratloser werden. Seine Freunde berichteten ihm von Elend, von Vertreibung und Mord. Aus Flüchtlingslagern erreichten ihn Nachrichten, dass dort Angehörige von ethnischen Minderheiten schlecht behandelt würden. Kirchen, die Flüchtlinge aufnahmen, schrieben ihm, dass die Soforthilfen, die von internationalen Organisationen und Staaten beauftragt wurden, nicht bei ihnen ankämen. Severiyos trat in der Schweiz mit den großen Hilfswerken in Kontakt und wollte diese mit seinem Netzwerk in den Krisengebieten zusammenführen. Doch schnell bemerkte er, dass dies nicht so einfach umsetzbar war. Die Hilfswerke konzentrierten sich auf ihre eigene Unterstützungsstrategie, zeigten wenig Interesse an seinen Plänen, besonders die Minderheiten zu unterstützen. Für Severiyos war nun klar: Er muss eine eigene Organisation gründen, um den vergessenen und bedrohten Minderheiten wirklich helfen zu können. 28. Januar 2017 Ein kleines, blondes Mädchen steht auf ihren Zehenspitzen, um an den Schaltknopf zu kommen, der etwas weit oben an der Wand angebracht ist. Das große Garagentor öffnet sich. „Wollen Sie Kleider bringen?“, fragt es freundlich. Edessa ist die Nichte von Severiyos und hilft immer mit, wenn es für Aramaic Relief etwas zu tun gibt. Heute macht sie den Pfortendienst und lotst die Autos durch die langen Gänge der Tiefgarage bis zum großen unterirdischen Raum, wo sich hohe Türme aus Kartonkisten stapeln. „Fahren Sie einfach rein.“ Es ist wieder Sammeltag, viele Menschen bringen Kleider, Hygieneartikel, Spielsachen für Kinder, Schulhefte, Stifte und andere Dinge, die für die Menschen in den Kriegsgegenden bestimmt sind. „Ich frage immer in der Nachbarschaft rum, sammle das Material ein und fahre es hierher“, sagt Elisabeth, während sie ihr eigenes und das Auto ihres Sohnes entlädt. Sie kommt aus Zürich und versucht jedes Mal zum Sammeltag zu kommen. „Die Situation im Nahen Osten ist derart schlimm, ich bin so froh, dass ich dank Severiyos konkret helfen kann.“ Auch Georg ist extra aus Zürich hergereist. Sein Auto ist vollgepackt mit Kleidern und Spielsachen. Zusammen mit seinem Sohn Sky hat er daheim überlegt, was sie den Kindern in Syrien abgeben könnten. Georg arbeitet bei einem Radiosender, hat dort zum ersten Mal von Aramaic Relief gehört und war sofort begeistert: „Da wird gute und wichtige Arbeit geleistet.“ Severiyos und ein paar Helfer begrüßen die heranfahrenden Materialspender, helfen beim Entladen und beginnen die angelieferte Ware zu sortieren und in Kartonkisten abzupacken. Heute werden gleich mehrere Schlafsäcke abgegeben. Auch ein Kinderschaukelsitz mit Seil ist dabei und eine ganze Kiste mit Handtüchern. „Kürzlich spendete ein Schuhhändler eine große Lieferung von Medizinschuhen, sodass wir im Sammelraum kurzerhand eine Schuhabteilung eingerichtet haben“, scherzt Severiyos. All die Kartonkisten werden schon bald in zwei große Lastwagen gepackt und auf die lange Reise in den Irak geschickt. Zehn Tage werden die LKWs unterwegs sein, bis sie beim türkisch-irakischen Grenzposten „Ibrahim Khalil“ ankommen. Dort werden Severiyos und seine Freunde die Fracht wieder in Empfang nehmen, die Einreisepapiere lösen und sie zu ihren Lagern in Dohuk im Irak bringen, wo sie dann in Familienpakete aufgeteilt wird. Mittels Kleintransporter und Karren erreichen die Hilfsgüter schließlich auch die abgelegenen Täler, Flüchtlingslager und Kirchenzentren, wo mit lokalen Partnern Verteilaktionen durchgeführt werden. Bereits vier große Warentransporte hat Severiyos in den vergangenen Jahren durchgeführt. Über 70 Tonnen Material konnten so in insgesamt 90 Verteilungen direkt zu den Notbedürftigen gebracht werden. Aramaic Relief sammelt aber nicht nur Hilfsgüter, sondern auch Geld. Es würde keinen Sinn machen, aus der Schweiz Nahrung in die Krisenregionen zu transportieren, daher werden Lebensmittelpakete lokal eingekauft. Grundnahrungsmittel wie Reis, Salz oder Mehl werden zu Familienrationen abgepackt und verteilt. 22.000 solche Pakete konnten als Direkthilfe eingesetzt werden. Gemäß den Hochrechnungen des Hilfswerkes sind dadurch in den vier Jahren seines Bestehens zirka 30.000 Familien mit Hilfsgütern und Lebensmitteln unterstützt worden, über 120.000 Menschen konnte direkt geholfen werden. Severiyos versucht möglichst viele dieser Verteilungen selbst zu begleiten und zu koordinieren. Er ist seit Kriegsbeginn schon mehr als 20 Mal selbst in die Konfliktregionen gereist, begleitet alle Projekte persönlich und sehr nah. „Was ich dabei alles erlebt und gesehen habe, ist wirklich dramatisch.“ Besonders das Schicksal der kleinen nordsyrischen Stadt Sadat, die rund 60 Kilometer südlich von Homs liegt, hat ihn sehr bewegt. Im Oktober 2013 wurde sie durch Kämpfer der islamistischen Al-Nusra-Front erobert. Diese blieben eine Woche. Sieben Tage genügten, um Tod und Terror in die Stadt zu bringen, ehe die vormals christliche Kleinstadt von der syrischen Armee wieder befreit werden konnte. Im Sommer 2014 reiste Severiyos als einer der ersten „Westler“ in die verwüstete Region. Was die Menschen ihm schilderten, war fast nicht auszuhalten. Ganze Familien wurden während der Besetzung regelrecht geschlachtet, Menschen am lebendigen Leib in Öfen verbrannt. In einem tiefen Dorfbrunnen wurden die fünf Leichen einer ganzen Familie gefunden. Alles gewöhnliche Bürger, die sich nichts zu Schulden kommen ließen. Severiyos erinnert sich aber auch, dass die Hinterbliebenen von Sadat zwar stark traumatisiert und verstört waren, aber dass trotzdem kein Hass zu spüren war. Die Leute sagten: Wir bauen diese Stadt wieder auf. Ein Satz, den Severiyos von den Hinterbliebenen oft zu hören bekommt. Er versucht, sie bei diesem Unterfangen tatkräftig zu unterstützen. In Homs baut Aramaic Relief gerade eine Schule für 220 Kinder. Im nordirakischen Erbil wurde letztes Jahr ein Kindergarten eröffnet. In Aleppo wird ein Betreuungszentrum unterstützt. Severiyos und seine Freunde wollen damit Hoffnungszeichen setzen, aufzeigen, dass sie es weiterhin ernst meinen und langfristig helfen wollen. Doch er stellt auch klar: „Gebäude sind schnell wieder aufgebaut. Kaputte menschliche Seelen hingegen nicht.“ Deswegen bietet Aramaic Relief auch psychologische Programme an, damit Posttraumatas behandelt werden können. Für Severiyos bedeutet der stark gewachsene Umfang der Hilfstätigkeit, dass er seinen eigentlichen Beruf als Rohstoffhändler inzwischen ganz aufgegeben hat, um sich voll in die humanitäre Hilfe einbringen zu können. In der Tiefgarage fahren weiterhin zahlreich Autos vor. Die 11-jährige Edessa verteilt den Sachspendern als Dankeschön einen kleinen Tischkalender mit Bildern von den Einsätzen von Aramaic Relief. Darauf sind syrische und irakische Kinder zu sehen. Auf die Frage, was sie denn einmal werden möchte, wenn sie groß sei, sagt Edessa bestimmt: „Ärztin. Damit ich diesen Kindern helfen kann.“
29. Januar 2017
„Es beginnt um 9.00 Uhr. Komm doch einfach so um 9.30 Uhr, ich hol dich dann vor der Kirche ab.“ Heute ist Sonntag und Severiyos hat mich eingeladen, den aramäischen Gottesdienst in Arth zu besuchen. Ich bin erstaunt über das Zeitmanagement und frage nach, ob man denn nicht schon um 9.00 Uhr in der Kirche sein sollte? „Ach nein, bei uns kann man auch etwas später kommen“, lacht Severiyos, denn die syrisch-orthodoxe Liturgie dauert im Durchschnitt zweieinhalb Stunden. Arth liegt etwas eingequetscht ganz unten im Tal zwischen dem Wildspitz und der monumentalen Rigi, der sogenannten „Königin der Berge“. Es ist ein herrlicher Wintermorgen, die Sonnenstrahlen lassen die verschneite Landschaft glitzern. Um 9.45 Uhr stehe ich am vereinbarten Treffpunkt. In deutscher und aramäischer Sprache steht über der Eingangstür: „Kloster St. Avgin der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien“. Severiyos begrüßt mich knapp, verschwindet in die Sakristei. Ich setze mich nervös und etwas schüchtern auf einen Platz ganz hinten in der Ecke. Auf der linken Seite der zur Hälfte gefüllten Kirche stehen die Frauen, rechts die Männer. In den vordersten Bänken bilden etwa zehn Frauen, eingekleidet in wunderschön langen, hellblauen Gewändern den Chor. Doch eigentlich singen alle Anwesenden inbrünstig mit. Pater Lahdo, der Priester, der im Altarraum in einem roten, mit Gold verzierten Messgewand der Liturgie vorsteht, singt abwechselnd mit dem Volk Psalmen und Gebete. Zirka ein Dutzend jüngere und ältere Männer sind in weiße liturgische Gewänder gekleidet und wirken mit, indem sie Kerzen hertragen, das Weihrauchfass schwingen und mit Glocken klingeln. Auch Severiyos stellt sich zu ihnen, umgezogen nun ebenfalls in weiß, zwei rote Bänder über die Schultern geschnürt. Er dient heute als Sub-Diakon. Total fasziniert beobachte ich das Geschehen. Eben noch stapfte ich an verschneiten Kuhwiesen und schlafenden Einfamilienhäuschen vorbei; und schon bin ich mitten in einem heiligen, orientalischen Schauspiel gelandet. In einer dichten Atmosphäre der Ehrfurcht und Erhabenheit. Der süßliche Duft des Weihrauches und die wiederkehrenden Melodien der Singsang-Gebete lassen mich an den Nahen Osten denken. Dauernd öffnet sich die Kirchentüre und weitere Gläubige strömen herbei, bis auch der letzte Platz besetzt ist. Dann verstummen die Gesänge und ein großer, bärtiger Mann in einem langen schwarzen Gewand stellt sich vor das Volk und fängt an zu reden. Es ist Dionysos Isa Gürbüz, der syrisch-orthodoxe Erzbischof für die Schweiz und Österreich. Ich bilde mir ein, dass ich einige wenige Worte seiner Predigt verstehe. Nach 11 Uhr ist der Gottesdienst zu Ende, ich werde ins Kloster eingeladen. In einem großen Raum mit einem schönen Teppich sitzen an den Wänden entlang einige Gottesdienstbesucher auf bequemen Sesseln und trinken Tee. Der Bischof hat sich ganz vorne im Raum dazugesellt und plaudert mit den Gläubigen. Wir setzen uns zu ihm, Severiyos mimt für mich den Übersetzer. Bischof Dionysos stammt ursprünglich ebenfalls aus dem Tur Abdin Gebirge. Seit vielen Jahren lebt er in Arth, wo die syrisch-orthodoxe Gemeinde 1996 das ehemalige Kloster der Kapuzinermönche neu besiedeln konnte. Von hier aus reist er viel herum, um die Gläubigen seiner Diözese, welche sich von Genf bis Wien spannt, zu besuchen. Ich frage ihn, für wie viele Menschen er denn verantwortlich sei. Das könne man nicht so genau sagen, meint er. Weil die Aramäer unterschiedliche Staatsangehörigkeiten haben, wurden sie vom Bund nie als eigene Gruppe erfasst. „Aber wir wissen von 1.400 Familien, die alleine in der Schweiz leben. Vielleicht sind es zirka 10.000 Menschen“, meint der Bischof. In Österreich gehören noch viele weitere dazu. Auch Gabriel, Severiyos’ Cousin ersten Grades, ist mit seiner Frau und den beiden Kindern zum Gottesdienst nach Arth gekommen. Gabriel arbeitet in leitender Funktion in der Software-Branche und wohnt in der Nähe. Das Spezielle an ihm ist: Er heißt nicht nur mit Vornamen Gabriel, sondern auch gleich mit Nachnamen. Gabriel Gabriel. Wie bitte? „Auch schon wurde ich gefragt, was sich denn meine Eltern bei der Namenswahl überlegt hätten.“ Gabriel kann heute darüber lachen. Schließlich wurde er gar nicht als Gabriel Gabriel geboren. Hinter seinem speziellen Namen steckt ein großes Stück Leidensgeschichte des aramäischen Volkes. Während des Ersten Weltkrieges wurde Gabriels Großvater Zeuge des fürchterlichen „Sayfo“, dem Völkermord an den aramäischen Christen. Zehntausende von ihnen wurden im damaligen Osmanischen Reich verfolgt, zwangsislamisiert oder massakriert. Es war der schreckliche Höhepunkt einer bis dahin 1.300-jährigen Historie der Diskriminierung, welche rund 100 dokumentierte Massaker kennt. Man geht heute von 300.000 bis 500.000 ermordeten Aramäern während des Genozids in den Jahren 1914 bis 1918 aus. Hinzu kamen über eine Million Tötungen an armenischen und griechischen Christen. Die Zahlen variieren derart, weil die betroffenen Aramäer damals in wirtschaftlich unbedeutenden Gegenden wohnten, auch deswegen keine internationale Beachtung fanden und der türkische Staat und seine Verbündeten das Verbrechen bis heute nicht anerkennen, was eine historische Aufarbeitung auch erschwert. Eine genaue Mengenerfassung der Getöteten ist also nicht möglich, die Erinnerungen der betroffenen Menschen an die schlimmen Ereignisse sind umso bedeutsamer. Gabriels Großvater erzählte später seinen Nachkommen, wie er als 8-jähriger Bub nur deshalb überlebte, weil er sich unter Leichenbergen versteckte und tagelang tot stellte. Auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nahm die Diskriminierung der Christen in der nachmaligen Türkei ihren weiteren Lauf. Sie durften ihre christlichen Namen nicht behalten, ihnen wurden willkürlich türkische Familiennamen zugeteilt. Die Familie von Gabriel bekam den Namen „Akinci“; was dieser bedeutet, weiß Gabriel bis heute nicht genau. Auch die Geburtsjahre und -tage der Christen wurden in amtlichen Dokumenten zufällig eingetragen. So sei Gabriels Vater laut Unterlagen 1949 am 1. Januar zur Welt gekommen. Merkwürdig ist, dass bei vielen weiteren Aramäern ebenfalls der 1. Januar im Pass steht. Bei Gabriels Vater kann das Datum nachweislich nicht stimmen, wurde er laut den Erzählungen der Alten doch erst im September 1950 geboren, also ganze eineinhalb Jahre später. „Geburtstage haben bei unseren Eltern und Großeltern deshalb aus nachvollziehbaren Gründen keine große Bedeutung“, fügt Gabriel lächelnd an. Als sich die ganze Familie in den 90er-Jahren in die Schweiz einbürgern ließ, entschieden sie gleichzeitig auch, wieder zum Namen ihres Ur-Großvaters zurückzukehren, und dieser war Gabriel. Solche Änderungen wurden damals plötzlich möglich. Gabriel war 9 Jahre alt und auf der Behördenstelle merkte man an, dass es gut wäre, wenn er aus Verwirrungs-Gründen noch einen zweiten Vornamen bekäme. So hieß Gabriel fortan Gabriel Christian Gabriel, wobei sich dieser „Mittelname“ irgendwie nie durchsetzte. „Ich fühlte mich einfach nie als Christian.“ In der Schule musste er sich anfänglich wegen seines neuen Namens einige Sprüche anhören, doch das legte sich bald. Heute hingegen werde er fast täglich mit Fragen und Bemerkungen konfrontiert. Er nützt dies dann jeweils, um die Geschichte seiner Familie zu erzählen. „Ich bin stolz auf meinen Namen“, sagt er. Inzwischen sitzen wir alleine mit Bischof Dionysos und Pater Lahdo im Gemeinschaftsraum des Klosters. Der Bischof erwähnt, dass die Aramäer der Schweiz und den anderen Ländern Europas sehr dankbar seien, dass sie hier aufgenommen wurden und leben können. Viele hätten große schweizerische Gastfreundschaft und Unterstützung genossen und konnten sich auch darum gut integrieren. Wenn man sich die so schwierige Geschichte seines Volkes vor Augen hält, kann man erahnen, wie existenziell diese Dankbarkeit für die einzelnen Aramäer wirklich ist. Ich frage den Bischof, ob denn die Schweizer Mentalität jener der „Suryoye“ ähnlich sei? Bischof Dionysos lacht und sagt: „Ja, wir sind ja auch Bergleute.“ Und er fügt an, dass er besonders die Schweizer Bauern sehr möge. Gleich neben dem Kloster gibt’s einen Bauernhof.
4. Februar 2017
Severiyos schreibt mir per WhatsApp aus Baschiqa, einer kleinen Stadt in der nordirakischen Niniveh-Ebene, die nur zwanzig Kilometer vom Zentrum von Mossul entfernt liegt. Seit Monaten kämpft dort die irakische Armee um die vollständige Rückeroberung von Mossul aus der Gewalt des IS. Zusammen mit einem Freund ist Severiyos kurzerhand hierher gereist, als ihm ein lokaler Partner vor einigen Tagen über Viber schockierende Fotos geschickt hatte. Darauf sah Severiyos kleine Kinder, die barfuss im Schlamm standen, schlecht gekleidet und unterernährt. Es wurde ihm gesagt, dass die großen Hilfsorganisationen ihre Direkthilfe an andere Orte verlagert hätten, und deswegen fehle es jetzt an allen Ecken und Enden. Heute hat er nun mit Aramaic Relief Lebensmittel, Hygieneartikel und Decken an zirka 900 Familien verteilt. In Baschiqa lebten hauptsächlich Jesiden, aber auch einige christliche Minderheiten. „Wir helfen ohne Unterschied und allen ethnischen Minderheiten“, stellt Severiyos klar. „Unsere Motivation ist dabei der Glaube der Nächstenliebe.“ Ich sitze in meiner warmen Wohnung und klicke auf Facebook durch die Galerie der heutigen Verteilung in Baschiqa, 4.000 Kilometer von hier entfernt. Bilder der sinnlosen Zerstörung. Doch jetzt sehe ich auch noch etwas anderes. Ich sehe auch die unerschütterliche Hoffnung jener, die seit 1.400 Jahren verfolgt werden und trotzdem immer wieder aufgestanden sind und weitergehofft haben: Das Volk der Aramäer. In heutiger Zeit stehen sie wieder auf, mitten unter uns im Westen. Nicht für sich selbst, sondern für ihre Leidensgenossen im Osten. Für dieses Vorbild und die Inspiration bleiben mir nur noch die Worte: Tawdi habre rhime!*
* aramäisch für: Danke, liebe Freunde!
Martin Iten, 30 , hat sich bei der Recherche zu diesem Artikel manchmal träumend gefragt, ob er eventuell selber (bisher unbekannte) orientalische Wurzeln hat. Die Gesänge der Aramäer entsprechen ihm sehr.

Fotos: Pierre Boutinard Rouelle, Aramaic Relief International, Martin Iten


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