«Ich wünschte, uns würde auch ein Erdbeben treffen.»
Am 10. April bin ich aus Syrien und dem Libanon zurückgekehrt. Zum 15. Mal, seit Beginn des Krieges, überquerte ich die Grenze zu Syrien. Während den letzten zwei Wochen war ich mit meinem Team vor Ort im Einsatz. Wir besuchten unsere aktuellen Hilfsprojekte in den Erdbebengebieten in Latakia und Aleppo, verschafften uns ein Bild der Lage und koordinierten neue Projekte. Danach reisten wir weiter nach Homs und Hama (Syrien), um weitere Projekte aufzubauen.
In Latakia angekommen, setzten wir uns zum Abendessen in ein Restaurant. Ein lokaler Freund drehte eine Wasserflasche um und stellte sie vorsichtig auf den Kopf, lächelnd sagte er, «Schau, das ist der syrische Seismograf, den alle zu Hause verwenden, so können Wellen und Schwingungen des Bodens rasch bemerkt werden. Fällt die Flasche um, rennen alle nach draussen».
Zwei Monate ist es her, seit dem verheerenden Erdbeben. Die Verzweiflung der Menschen ist sehr gut spürbar, was mir aber besonders auffiel war das Trauma unter welchem die meisten Menschen, besonders Kinder, noch heute sehr stark leiden. Fast jede Woche finden Nachbeben statt, diese verlangsamen den mentalen Heilungsprozess. Ein Mann erzählte, dass wenn die Nachbarn im Treppenhaus heruntereilen, und der Esstisch vibriert, löst es bei den Kindern direkt eine Angst aus und Ungewissheit, ob sie nun hinaus springen müssen oder nicht.
Seit 3.5 Jahren beschäftigen wir ein Bildungszentrum in Latakia, welches seit dem Erdbeben als Verteilzentrum von Hilfsgütern dient. Wir unterstützen Familien mit Lebensmittelpaketen, Hygieneartikeln und planen für kommende Wochen weitere Hilfen mit Lebensmittelgutscheinen.
In Aleppo angekommen, fällt es uns schwer zwischen der Zerstörung durch den Krieg und er Zerstörung durch das Erdbeben zu unterscheiden. Die Spuren der jahrelangen Kämpfe sind überall sichtbar. In Aleppo haben wir einen besonderen Fokus auf ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen und Krankheiten. In der Flut der enormen Not, bleiben diese Menschen oft ungehört und vergessen, deshalb gehören sie für uns zu den schutzbedürftigsten. Zudem leiden Sie wegen des Erdbebens auch unter Angststörung und mentalem Stress. Zu unseren Hilfsprogrammen in Aleppo gehören, tägliche Pflege und Betreuung von betagten Menschen, sowie soziale und psychologische Hilfe für Menschen mit Behinderungen, Verteilungen von Medikamenten, Finanzierungen für Notoperationen und Lebensmittelprojekte. Des Weiteren betreiben wir in Aleppo seit 4 Jahren ein Psychologisches Zentrum, welches primär Frauen und Opfer häuslicher Gewalt, unterstützt. Seit dem Erdbeben bieten wir hier auch Elternbildungs- und Sensibilisierungskurse an, damit Eltern lernen mit der Angststörung und dem mentalen Stress der Kinder richtig umzugehen.
Der 12-jährige Krieg und die daraus resultierenden Wirtschaftssanktionen haben die syrische Bevölkerung in eine tiefe und ausweglose Armut getrieben. Ca. 95% der syrischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Es gibt kaum Perspektiven und für die meisten Menschen ist die einzige Lebensader «internationale Hilfe» von einigen wenigen Hilfswerken, die sich nach den Strapazen annehmen und den Menschen Hilfe bereitstellen. Hilfswerke seien seit dem Erdbeben wieder verstärkt in Syrien im Einsatz, jedoch fehlt es den Menschen dennoch an allem.
In Homs angekommen, begrüssten uns unsere lokalen Freunde mit offenen Armen, sehr gastfreundlich, wie es in Syrien üblich ist. Wir schlendern durch die zerstörten Gassen, als uns ein lokaler Bekannter entgegenkommt. Ich frage nach seinem Wohlbefinden, er antwortet; «Ich wünschte, uns würde auch ein Erdbeben treffen, damit die Welt Hilfe sendet und unser Leid lindert… So schlecht geht es uns in Syrien, dass wir uns nach Naturkatastrophen sehnen, welche eine Flut von Solidarität auslösen und wir gehört und unterstützt werden.»
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